Fallstudie aus der psychotherapeutischen Praxis
Schwere Anpassungsstörung
Patient: Anna, 30 Jahre
Anamnese: In meine Praxis kommt eine junge, sehr schlanke Frau. Im Gespräch ist sie klar, strukturiert und offen. Sie wirkt konstruktiv und hat eine hohe Therapiemotivation.
Anna war als Kind wohlbehütet aufgewachsen. Sie hatte eine Ausbildung zur Arzthelferin abgebrochen und war als junge Frau in schlechte Kreise hineingeraten. Sie war ins Drogenmilieu abgerutscht, hatte sich in einen Zuhälter verliebt und im Alter von 18-22 Jahren als Hure gearbeitet. Es erfolgte eine Abtreibung in Holland. Anna wurde von Ihrer Familie von dem Zuhälter freigekauft.
Sie richtet sich neu aus. Anna arbeitet als selbständige Gebäudereinigerin und übernimmt die Firma ihres Lebensgefährten, der ihr allerdings Steuerschulden verschweigt. Seit kurzem befindet sie sich in Privatinsolvenz. Sie lebt mit ihrem Freund (Vater des 1,5-jährigen Sohnes) seit 3 Jahren zusammen. Das Zusammenleben ist in dieser Zeit nur manchmal harmonisch. Sie glaubt nicht, dass die Beziehung eine Zukunft hat, denn ihr Partner ist nicht aufrichtig.
Zu den geschiedenen Eltern hat sich der Kontakt verschlechtert, es besteht eher zum Vater noch ein besserer
Kontakt. Der Kontakt zur Mutter ist schlecht, weil Anna sich eher ihrem Vater anvertraut hatte. Aber auch Anna war nicht aufrichtig. Sie hatte beide Elternteile zu ihrer finanziellen Situation angelogen.
Eine Aussage ihres Vaters belastet Anna schwer. Bei einem Besuch hatte er ihr gesagt: „Es ist nicht schlimm, dass du als Hure gearbeitet hast“. Sie hatte seinerzeit auf diese Aussage nicht reagiert.
Zu der jüngeren Schwester (Zahnarzthelferin, 18 Jahre) besteht ein distanzierter Kontakt. Anna ist eifersüchtig und neidisch, weil ihre Schwester aus eigenem Antrieb alles geschafft hatte, was ihr selbst nicht gelungen war. Ihre Schwester wurde von den Großeltern massiv finanziell unterstützt. Sie hebt sich ständig mit ihren Erfolgen hervor.
Vor einigen Monaten hatte Anna auf dem Handy ihres Lebenspartners ein Nacktbild ihrer Freundin entdeckt
und herausgefunden, dass die beiden ein Verhältnis haben. Daraufhin erfolgte eine Trennung von Ihrem Lebens-partner für einen Zeitraum von 6 Wochen.
Die gesamte Situation trägt dazu bei, dass die Klientin z. Zt. zum Stresstrinken neigt. Sie hat Angst vor dem Alleinsein, Angst vor Trennung.
Anna hat jetzt folgende Ziele:
- sie möchte lernen, sich selber wieder wertzuschätzen
- sie will arbeiten gehen und auf eigenen Beinen stehen
- sie möchte das „Bild von der Straße“ loswerden (sie träumt jede Woche davon)
- sie möchte Rachegelüste gegenüber ihrer Ex-Freundin loswerden
- sie möchte so sein wie früher: bescheiden, ehrlich, kommunikativ.
Verdachtsdiagnose
Schwere Anpassungsstörung, F 43.2
Die psychodynamisch begründete Störung hat sich auf dem Boden tiefgreifender persönlicher Erlebnisse
- die auch in der partnerschaftlichen Enttäuschung erlebt werden - in Verbindung mit einer interfamiliären Beziehungsstörung entwickelt. Die familiäre Beziehungsstörung wird zusätzlich als besonders schwerwiegend empfunden, weil familiäre Beziehungen immer als schützend und wichtig erlebt wurden.
Therapie
1. Sitzung: Anna wählt eine erlebte Situation der Ruhe aus, in der sie völlig entspannt war. Diese Situation verankere ich bei ihr in einem leichten Trancezustand. Bei der künftigen Bearbeitung von inneren Bildern, die sie belasten, kann dieser Ruheanker genutzt werden, wenn sie unruhig wird oder aufgeregt ist.
Ich führe Anna in die erlebte Aussage ihres Vaters hinein: „Es ist nicht schlimm, dass du als Hure gearbeitet hast.“ Vorher vermittle ich ihr, dass sie als erwachsener Mensch schon viel erlebt hat und deshalb – einfach aus
ihrem Erfahrungsschatz heraus – einen großen Korb an Verhaltensmöglichkeiten besitzt, aus dem sie jederzeit auswählen kann. Ihr Unbewusstes wird ihr also im Trancezustand Verhaltensmöglichkeiten anbieten.
Sie erlebt die Situation beim Besuch des Vaters noch einmal als Film und reagiert unmittelbar auf seine Aussage. Sie sagt „Ich gehe“ und geht. Ihr jüngeres „Ich“, welches sie als Film noch einmal erleben konnte, reagierte jetzt anders. Anna streckt auf dem Klientensessel die Arme aus, holt ihr jüngeres „Ich“ aus dem Film heraus und legt es sich auf ihren Körper, integriert es gewissermaßen. Sie integriert damit neues, selbstbewusstes Verhalten.
2. Sitzung: Anna erzählt, dass sie sich im Umbruch befindet. Sie will sich weiter entwickeln, ist ehrgeiziger geworden und hat regelmäßigen Kontakt zu ihrer Mutter. Sie möchte das „Bild von der Straße“ loswerden.
Im Trancezustand sieht sie das Bild, wie sie in ihrer „Arbeitskleidung“ vor dem Spiegel steht. Sie macht sich davon konkret ein Bild und hängt es im Wohnzimmer auf. Dann lässt sie das Bild verschwinden, bis nur noch die weiße Wand zu sehen ist.
3. Sitzung: Anna geht es gut, sie arbeitet als Gebäudereinigerin. Sie ist selbstbewusster geworden,
das „Bild von der Straße“ ist weg, sie träumt nicht mehr davon. Anna möchte die Rachegelüste zur
Ex-Freundin (Affäre ihres Lebenspartners) loswerden. Dazu hat sie ein bestimmtes Bild im Kopf:
Sie und ihr Lebenspartner sitzen im Wohnzimmer und schauen gemeinsam mit der Freundin einen Film.
Die Freundin ist sturzbetrunken und torkelt. Ich führe Anna in einem leichten Trancezustand in dieses Bild hinein. Sie schmeißt die Freundin raus und schließt die Tür. Dieses neue Verhalten ihres jüngeren „Ichs“
integriert sie auf dieselbe Art und Weise wie in der 1. Sitzung.
4. Sitzung: Annas Mutter ist stolz auf sie. Innerhalb der Familie wird registriert, dass sie ein ganzes Stück selbstbewusster geworden ist. Ihre Partnerschaft läuft besser, ihr Lebensgefährte will sich mehr an der Erziehung des gemeinsamen Sohnes beteiligen. Ihre Arbeit ist anstrengend, aber es macht ihr Spaß. Das „Bild von der Straße“ ist weg, ihre Ex-Freundin ist ihr egal.
Sie hat ein Bild im Kopf, welches sie mit ihrer Angst vor dem Alleinsein in Verbindung bringt:
Es ist die Situation der Hochzeit ihrer Eltern. Die Braut ist entführt, sie fährt im Auto mit Bekannten davon.
Durch die Heckscheibe sieht sie ihren Vater nachwinken. In einem leichten Trancezustand macht sie sich von der Situation ein Bild und hält diese Bildvorstellung konkret fest. Sie erlebt folgende Imagination: Sie steht mit ihrem kleinen Sohn auf einem Stoppelfeld, er hält einen schwarzen Luftballon in der Hand. Das vormals beschriebene konkrete Bild klebt sie darauf und lässt den Ballon aufsteigen.
Vor der 5. Sitzung erfolgt gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten eine von mir gestaltete „moderierte Paartherapie“. Jeder der Partner muss schriftlich gestellte Fragen persönlich für sich beantworten und die Antworten im paartherapeutischen Prozess seinem Lebenspartner persönlich aber wertschätzend offenbaren. Gegenseitige Ansprüche, Erwartungshaltungen Kränkungen und Enttäuschungen werden so deutlich. Es werden
Vereinbarungen zum künftigen Zusammenleben getroffen. Es gibt konkrete Ergebnisse, die von mir protokolliert werden. Diese Dokumentation hängt Anna gerahmt in ihrem Korridor auf.
5. Sitzung: Ihr Partner hat ihr Blumen geschenkt, Anna hat schlecht darauf reagiert. Sie will sich bei ihm
entschuldigen. Sie hat mit dem Alkohol abgeschlossen und trinkt nicht mehr. Ihre Großeltern sind von ihrem deutlich gewachsenen Selbstbewusstsein begeistert. Ich möchte ein positives Bild ihres Lebenspartners bei ihr verankern. Sie wird in das von ihr gewählte Bild hineingeführt: Es ist morgens im Kreißsaal. Sie hat gerade ihren Sohn geboren. Ihr Lebensgefährte sitzt bei ihr und hält den kleinen Sohn im Arm. Er sagt: „Happy Birthday“. In diesem Moment geht die Sonne auf.
6. Sitzung, Abschlussgespräch: Anna hat sich für ihr Verhalten, als sie die Blumen geschenkt bekam, entschuldigt. Sie hat ihm ein PC-Spiel gekauft. Er hat sich gefreut wie ein Kind. Wenn sie erzählt, strahlt sie.
Nach ihrer Meinung verläuft ihr Leben in guten Bahnen. Sie ist wieder „die Alte“ geworden. Ihre Beziehung ist entspannter geworden. Angst vor dem Alleinsein besteht nicht mehr. Ihr Arbeitgeber hat ihr die Objektleitung zu
mehreren Gebäuden angeboten.
Stand der Dinge
Anna geht es gut. Sie hat die angebotenen Objektleitungen angenommen. Ihr Verhältnis zur Mutter
ist wesentlich besser geworden. Sie haben jede Woche Kontakt. Ihr Arbeitgeber hat ihr einen Dienstwagen
in Aussicht gestellt.
Fazit
Anna ist stark und selbstbewusst. Sie hat alle ursprünglich verfolgten Ziele erreicht. Das war nur möglich, weil es gelang, die entsprechenden belastenden Problemstellungen zu identifizieren und mit den dazugehörigen Bildern (und Gefühlen) zu verbinden. Hilfreich mag aber auch die Bereitschaft zu einer Paartherapie gewesen sein. Dort mussten beide Partner mit den gegenseitigen Offenbarungen auch ein Stück Leidensfähigkeit beweisen. Über Vereinbarungen ist der Konsens gelungen. Die Prognose ist günstig.
Rainer Wieckhorst
Heilpraktiker für Psychotherapie mit Praxis in
Reinbek, Kommunikationsexperte, Experte für NLP,
Angst- und Panikstörungen
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